F***ing Fatigue

Es reicht.

Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Es reicht. Nach einem neunmonatigen Behandlungsmarathon, der mir zwar vorerst das Leben gerettet, sich aber dennoch wie eine nicht enden wollende Misshandlung meines Körpers angefühlt hat, gehe ich in die Knie. Monatelang habe ich mich zusammengerissen und war für jeden Onko-Spaß zu haben, aber zwei Tage nach der letzten Bestrahlung ist Schluss. Eine grenzenlose bleierne Erschöpfung macht sich breit, kleinste Anforderungen wie Müll rausbringen, Katze füttern oder Hotti und Lotti zuhören türmen sich wie gigantische Hindernisse vor mir auf, und die Gedanken werden täglich finsterer, alles sinnlos, ich kann nicht mehr, ich schaffe das nicht. Meine Konzentrationsfähigkeit geht gegen null, und ich frage mich, wie ich jemals wieder arbeiten soll. Der Fachbegriff für diese krebs- bzw. krankheitsbedingte Müdigkeit ist Fatigue, die Definition lautet folgendermaßen: „Fatigue ist ein anhaltendes, subjektives Gefühl von physischer, emotionaler und/oder kognitiver Müdigkeit oder Erschöpfung, das durch die Erkrankung oder deren Therapie entsteht […].“ (aus: Krebsverband Baden-Württemberg e.V. (Hrsg.): Sport, Bewegung und Krebs, S. 35) Na wunderbra, auch das noch.

Ab ins Schneckenhaus

Eine Medikamentenumstellung macht mich vollends zum Nervenbündel. Gleichzeitig lässt die Beteiligung am gemeinsamen Haushalt durch die homeschooling- und abiturgeplagte Brut – bei extensiver Inanspruchnahme meiner Person – sehr zu wünschen übrig, und dass es nur noch wenige Wochen bis zur Anschlussheilbehandlung sind, nützt akut leider gar nichts. Auf Chéris Rat hin suche ich noch in derselben Woche die Psychoonkologische Beratungsstelle heim, wo ich augenblicklich in Tränen ausbreche und die Beraterin angesichts meiner Verfassung in Nullkommanichts einen soliden Dreipunkteplan mit mir aus dem Boden stampft:

  1. Haushaltshilfe organisieren,
  2. Schlaf verbessern,
  3. für Ruhe sorgen.

Da mir Punkt 3 am dringlichsten erscheint, radle ich nach dem Gespräch direkt zu Chéris Wohnung und flehe ihn heulend um Asyl an. (Für alle, denen unsere Wohnsituation nicht bekannt ist: Chéri wohnt in sechzig Metern Entfernung auf der anderen Straßenseite, was sich wieder einmal als riesiges Glück erweist.) Überrollt von dieser Vehemenz, gewährt er sofort alles. Also wanke ich nach Hause und packe drei Taschen mit den wichtigsten Dingen: Kissen, Laptop, Boombox, Klamotten, Badzeugs, Lektüre, Baldriantee und -tropfen sowie eine Nordsee-Postkarte von Frau Holz, die sich vor zwei Jahren in derselben Mühle befand. Ich informiere den Hotti-Lotti-Papa, dass er in den nächsten drei Tagen für sämtliche Belange der Brut zuständig ist, lege einen entsprechenden Zettel für die Brut auf den Küchentisch und bitte Lotti, meine Sachen mit zum Herrn Nachbarn zu tragen. Kurz denke ich, dass irgendwann tatsächlich das Jugendamt bei uns auf der Matte stehen wird, aber das ist jetzt auch egal, ich brauche so schnell wie möglich ein sicheres Schneckenhaus, in dem ich mich wieder zusammenpuzzeln kann.

In Chéris Gästezimmer klebe ich als erstes die Nordsee-Karte an die Wand, lasse Meeresrauschen über die Boombox laufen, rolle mich auf dem Gästebett zusammen und schlafe sofort ein. Im Laufe des Tages breite ich mich in der Wohnung meines Lovers aus, nicht ohne jeden einzelnen Schritt legitimieren zu lassen: „Chéri, ich stelle jetzt mein Duschzeug ins Bad, ok? Ist die Musik zu laut?? Ich tät mal im Wohnzimmer Zeitung lesen, OK???“ Da sich unser gemeinsamer Alltag normalerweise im Hause aktuelle abspielt, habe ich in Chéris Residenz relativ wenig Routine. Und man weiß ja nie, wo die Toleranz beim Anderen endet – womöglich riskiert man das Ende der Beziehung, nur weil man einmal unwissentlich irgendeinen unsichtbaren Bogen überspannt.

Essen, schlafen, glasig gucken

Und dann versinke ich drei Tage in grenzenlosem Egoismus, esse, schlafe, lese und schaue glasig, wann, wo und solange ich will, zupfe Unkraut und sammle Steinchen im Garten und muss gar nichts außer auf die Frage antworten, ob ich noch einen Kaffee möchte. Am Muttertag schaue ich kurz zu Hause rein, um ein paar Sachen zu holen. Die Brut hat mir eine Blume auf den Schreibtisch gestellt, die Katze hat mir eine Maus ins Bett gekotzt. Ich putze die Kotze weg, rette mich in Chéris Wohnung, breche wieder in Tränen aus und buche einen weiteren Tag in meinem persönlichen Müttergenesungswerk.

Die folgende Woche beschert mir neben einer weiteren Dosis Antikörper und meinem neuen Fitnesskurs „Sport nach Krebs“ diverse Arztgespräche, die wieder Struktur in mein aktuelles Medikamentenchaos bringen. Als Chéri mir zudem glaubhaft versichert, jederzeit bei ihm einchecken zu können, und zu guter Letzt auch noch die weltbeste Fanta anbietet, uns ab sofort erneut einmal wöchentlich mit einem warmen Essen zu beglücken, sehe ich wieder Licht am Ende des Tunnels. Alles wird gut, wir schaffen das.

5 Kommentare

  1. Liebe Anja,
    es ist unvorstellbar, durch was Du gerade durchgehst, wankst, schleichst, schreitest, rennst, fliegst, aber weiter gilt: Anja Merkel schafft das. Alles Liebe und Gute und Grüße an Chéri.

  2. Liebe Anja, Du bist so stark… und machst alles richtig!!! Hut ab! Von Herzen die besten Wünsche für Dich! und eine feste Umarmung, steff

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